Finanzministerin Karin Keller-Sutter griff den Armeechef im Spätsommer hart an. Thomas Süssli stand im Verdacht, das Amtsgeheimnis verletzt zu haben. Das VBS führte eine Administrativuntersuchung durch und reichte Strafanzeige ein.
Die Welt brennt. Europa steckt in der grössten sicherheitspolitischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, und ausgerechnet jetzt demontiert sich die Schweizer Armee selbst. Die drei wichtigsten Posten des Verteidigungsdepartements sind auf einen Schlag neu zu besetzen.
Bundesrätin Amherd tritt ab, Armeechef Süssli hört auf, und auch Nachrichtendienstchef Christian Dussey mag nicht mehr. Damit nicht genug. Luftwaffenchef Peter Merz hat auch gekündigt, der Armasuisse-Projektleiter und «Mr. Kampfjet» Darko Savic verlässt das VBS, und der Korpskommandant Hans-Peter Walser wird pensioniert. Etwas hilflos versuchte Viola Amherd am Mittwoch, mit einer Pressekonferenz die Lage zu beruhigen: «Es handelt sich um einen üblichen, normalen Prozess», so die Verteidigungsministerin.
Recherchen der «NZZ am Sonntag» zeigen ein anderes Bild: An der Spitze der Armee herrscht eine Stimmung des Misstrauens. Armeechef Süssli sieht sich als Bauernopfer eines Machtkampfes in der Regierung. Gegenüber engen Vertrauten hat Süssli deutlich gemacht, dass er beim Streit zwischen Viola Amherd und Karin Keller-Sutter zwischen die Fronten geraten sei. Der Konflikt um Armeechef zeigt, wie hart unter der Bundeshauskuppel um Macht und Milliarden gerungen wird.

Sie will sparen: Finanzministerin Karin Keller-Sutter.
Der Rücktritt von Süssli ist die Geschichte eines Mannes, der sich zunehmend als einsamer Rufer sah. Bei Reisen nach Osteuropa spürte er die russische Bedrohung. Die oft beschworene Zeitenwende ist für ihn keine Floskel, sondern ein Fakt. Entsprechend energisch spricht er sich für die Aufrüstung der Armee aus. Doch in Bundesbern herrscht weiterhin das übliche Klein-Klein, ein Streit um jeden Franken. Daran entzündet sich der Konflikt zwischen Amherd und Keller-Sutter.
Die Positionen liegen meilenweit auseinander: Keller-Sutter will trotz geopolitischem Umbruch auf keinen Fall die Schuldenbremse lockern. Anders Amherd: Sie sieht immer grössere Risse in der Sicherheitsarchitektur Europas und wirbt offensiv um mehr Geld. In diesem politischen Hickhack fühlte sich der Armeechef zunehmend unverstanden.
Süssli hält sich nicht immer an die ungeschriebenen Regeln, nach denen der Berner Betrieb funktioniert. Der selbstbewusste Offizier kommuniziert gerne und viel. Aber nicht immer glücklich. Er gibt Interviews und betont oft, wie schlecht die Armee gerüstet sei. Damit ist er Keller-Sutter auf die Füsse getreten. Die mächtigste Frau in der Landesregierung ist «not amused» über seine Auftritte. An Süssli wurde herangetragen, er solle aufhören, öffentlich mehr Geld zu fordern.
Massive Vorwürfe gegen den Armeechef
Richtig eskaliert ist der Konflikt im Sommer. Die «NZZ am Sonntag» zitierte am 31. August aus Entwürfen der Expertengruppe Gaillard, die der Bund eingesetzt hatte, um Sparmassnahmen auszuloten. Dass Details zu geplanten Sparmassnahmen bei der Armee plötzlich auf der Titelseite dieser Zeitung landeten, hat für Bundesrätin Keller-Sutter und ihre Entourage das Fass zum Überlaufen gebracht. Im Finanzdepartement (EFD) war man überzeugt, dass der Armeechef die Quelle sei.
Recherchen zeigen, dass der Bundesrat Anfang September eine Diskussion darüber führte, ob der Armeechef noch vertrauenswürdig sei. Mehrere Mitglieder des Gremiums äusserten Zweifel an seiner Loyalität. Karin Keller-Sutter soll gar den Rücktritt des Armeechefs gefordert haben. So erzählen es mehrere unabhängige Quellen.
Damit war das Geschirr zwischen der machtbewussten Finanzministerin und Viola Amherd endgültig zerschlagen, und Süssli musste wegen eines Artikels um seinen Job bangen. Wie das VBS bestätigt, wurde die Anwaltskanzlei Homburger mit einer Administrativuntersuchung beauftragt. Sie sollte untersuchen, wie die Informationen an diese Zeitung gelangten. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde auch der Armeechef befragt, wie das VBS bestätigt. Zudem reichte das VBS bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige gegen unbekannt ein.
Anfang September war das Vertrauen in den Armeechef damit auf dem Tiefpunkt. Zwar entlastete die aufwendige Administrativuntersuchung Süssli – was aber blieb: ein Klima des Misstrauens.
«Wenn das stimmt, dass der Bundesrat tatsächlich den Armeechef der Geheimnisverletzung verdächtigt hat, erachte ich das schon als sehr heikel. Was wollte man denn damit erreichen, ausser ihn zu verunsichern?», sagt die Aargauer Mitte-Ständerätin Marianne Binder. «Thomas Süssli ist eine absolut integre Persönlichkeit. Dass er entlastet wurde, war zu erwarten.» Auch ihr ist aufgefallen, dass zwischen den beiden Departementen ein Interessenkonflikt ausgetragen wird. «Solche Kleinkriege können wir uns angesichts der Weltlage nicht mehr leisten.»
«Man hat gespürt, dass es zwischen dem VBS und dem Finanzdepartement kein Vertrauen mehr gab», sagt der SVP-Sicherheitspolitiker Michael Götte. In der angespannten geopolitischen Lage sei es fatal, wenn es in der Landesregierung derartige Differenzen gebe.
Armee bekommt mehr Geld und muss trotzdem sparen
Das interne Misstrauen war das eine, das Süssli zunehmend zu schaffen machte. Hinzu kam, dass er sich trotz steigender internationaler Bedrohung mit einem massiven Sparauftrag konfrontiert sah. Zwar erhält die Armee offiziell viel zusätzliches Geld für Rüstungsmaterial der Topliga (Kampfflugzeug F-35, Patriot-Systeme, neue digitale Plattform), doch fliesst dieses nur unter einer Bedingung: Das VBS muss seine Betriebskosten senken, sprich Personal abbauen.
Das bringt die Armee in eine missliche Lage. In der Sicherheitskommission zeigte der Armeechef den Politikern mit einer Powerpoint-Präsentation, wie gross der Spardruck ist. Bis 2030 müssen die Kosten der Armee um eine halbe Milliarde sinken. Süssli hat deshalb befohlen, den Papierverbrauch der Truppe zu halbieren. Doch weniger drucken und kopieren reicht niemals, um die Budgetvorgaben zu erfüllen.
Den mit Abstand grössten Sparbeitrag von über 200 Millionen Franken muss deshalb das Personal leisten. Was das konkret bedeutet, zeigt eine interne Auflistung, die der «NZZ am Sonntag» vorliegt. Der Armeestab muss 40 Vollzeitstellen einsparen. Bei der Logistik müssen 100 Stellen weg, das Kommando Operationen verliert 70 Jobs. Insgesamt muss die Armee über 260 Stellen abbauen. Weil viele Babyboomer in Pension gehen, sollte das ohne Entlassungen gehen. Doch es reisst Löcher in die Personaldecke.
Gleichzeitig muss die Armee Know-how aufbauen, um die stark IT-lastigen Neuanschaffungen zu betreiben. Geht das auf? «Dieser Stellenabbau ist massiv. Das gefährdet den Aufbau der Verteidigungsfähigkeit», warnt der Berner SVP-Ständerat Werner Salzmann. Der SP-Sicherheitspolitiker Fabian Molina befürchtet, dass die Armee gar nicht die Mittel hat, das neu beschaffte Material zu betreiben: «Der Personalengpass beim VBS ist real, und die Lage wird nicht besser.» Auch die Schweizerische Offiziersgesellschaft sorgt sich: «Die laufenden Betriebskosten steigen, und mit neuen Systemen könnten sie aus dem Ruder laufen», so deren Präsident Dominik Knill.
Doch Thomas Süssli ist nicht einfach Opfer eines Machtkampfes und bundesrätlichen Spardrucks. Er und die Armee haben sich auch angreifbar gemacht. Mit gescheiterten und verzögerten Projekten haben sie viel Goodwill verspielt. Ausgerechnet bei ihren wichtigsten und grössten Beschaffungen patzte die Armee. Darum mussten er und Viola Amherd Ende Januar, drei Tage bevor Süssli seine Kündigung einreichte, noch einmal vor der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) antraben und zu den wichtigsten Projekten Auskunft geben. Dort wollten sie zeigen, dass alles auf Kurs sei.
Hunderte Millionen Franken Mehrkosten
Aber die Parlamentarier begegnen den beiden kritisch. Die Kommission bestellt beim VBS eine Auflistung der Mehrkosten der laufenden Projekte. Das interne Dokument liegt der «NZZ am Sonntag» vor. Fein säuberlich haben die Beamten notiert, bei welchen Grossprojekten – von Drohnen über Rechenzentren bis zu Funkgeräten – die Kosten aus dem Ruder gelaufen sind. Kumulierte Mehrkosten: 780 Millionen Franken.
Die Mehrkosten seien durch «externe geänderte Rahmenbedingungen» entstanden, wehrt sich das VBS in einer schriftlichen Stellungnahme. Währungsschwankungen, Teuerung, zusätzliche Wünsche aus dem Parlament hätten die Kosten in die Höhe getrieben. Aber das nützt nichts mehr. Die Politik verliert offensichtlich die Geduld.
«Das ist absolut nicht zu tolerieren», sagt der SVP-Sicherheitspolitiker Michael Götte. Auch von links kommt harte Kritik: «Jedes Projekt gehört überprüft. Das ist angesichts der chronischen Kostenüberschreitungen zwingend», sagt der SP-Nationalrat Fabian Molina.
Spardruck, fehlendes Vertrauen, verbockte Projekte: Der Druck auf das System Armee ist zurzeit sehr hoch. Der grosse Knall von dieser Woche war erst ein Vorgeschmack auf das, was auf den neuen Bundesrat zukommt. Es ist wohl kein Zufall, dass der Chef Armeeplanung Peter Bruns krankgeschrieben ist.
Und Thomas Süssli?
Er wird sein Büro Ende Jahr räumen. Gegenüber seinem Umfeld betont der Armeechef, dass er nicht wegen des Eklats im Sommer aufhöre, bedauert aber, dass es ihm nicht gelungen sei, ein vertrauensvolles Klima zu schaffen. Ob all der Intrigen und Leaks habe Süssli zeitweise nicht mehr gewusst, wem er noch vertrauen könne, sagen Leute, die ihn gut kennen. Für den Schweizer Sicherheitsapparat ist das in diesen unruhigen Zeiten kein gutes Zeugnis.