Verfrühte Evakuation, viel zu hohe Kosten: Bei der Räumung des Munitionslagers Mitholz hat Bundesrätin Viola Amherd kritische Expertisen der eigenen Armee ignoriert.
Wenn Viola Amherd Ende März in Frührente geht, hinterlässt sie ihrem Nachfolger eine Grossbaustelle. Die Armee wurde in der Amtszeit der Mitte-Bundesrätin geschwächt. Nach aussen, weil Amherd mit ihrem Schmusekurs mit der Nato und der EU der Armee ihre Abschreckung nahm. Nach innen, weil sie die offenkundigen Probleme im Beschaffungsbereich (oder zumindest die Negativschlagzeilen) nicht in den Griff bekam. Nun droht eine neue Sperrzone im VBS.
Die beschlossene Räumung des Munitionslagers Mitholz hat das Potenzial, ein politischer Blindgänger zu werden. Gespaltenes Dorf Zur Erinnerung: Im Dezember 1947 explodierte beim Weiler Mitholz (Gemeinde Kandergrund) ein unterirdisches Munitionslager, das während des Zweiten Weltkriegs von der Armee angelegt worden war. Neun Menschen starben, mehrere Familien verloren Hab und Gut. Die zerstörte Innenanlage wurde seither mit Ausnahme des Bahntunnels komplett von Munitionsüberresten und Schutt geräumt und in der Folge renoviert und weiter ausgebaut. Der neue Ausbau beinhaltete unter anderem eine Armeeapotheke und eine Truppenunterkunft.
Risikoanalysen aus den 1980er Jahren gingen offenbar davon aus, dass denkbare kleinere Explosionen weder die neue Innenanlage noch das Dorf, Bahn oder Strasse gefährden können. 2018 wurden weitere Abklärungen gemacht, weil die Armee ein Rechenzentrum in den Berg bauen wollte. Das Risiko einer Explosion und deren Ausmass wurden plötzlich für höher befunden. Der damalige VBS-Chef Guy Parmelin (SVP) informierte die Bevölkerung in Mitholz, plädierte indes dafür, Ruhe zu bewahren, das Ganze eingehend zu studieren und nichts zu überstürzen. Dann, Anfang 2019, übernahm Viola Amherd das Departement.
Und plötzlich ging es schnell. Schon im September gleichen Jahres präzisierte Amherd ihr Ziel, das Lager räumen zu lassen. Die Kostenschätzungen kamen zuerst zwischen 500 und 900 Millionen Franken zu liegen. 2023 genehmigte das Parlament schliesslich einen viel höheren Verpflichtungskredit von 2,59 Milliarden Franken (gegliedert in zwei Tranchen). Mitholz erlangte nationale Bekanntheit, weil ein Teil der Bewohner während der geplanten Räumungsarbeiten den Weiler verlassen muss.
Die Emotionen und Entschädigungen gingen hoch. So profitierte die Familie von GLP-Präsident Jürg Grossen von einem Liegenschaftsverkauf ans VBS, wie die Weltwoche jüngst publik gemacht hat. Während sich die Räumung heute schon verzögert, ist das Dorf längst gespalten. Hätte man das alles verhindern können? «Ja», sagt Franz Bär. Er war von Beginn an beim Mitholz-Projekt involviert, von den ersten Risikoanalysen 2018 bis zu seiner Pension 2023.
«Kampfmittelräumer sind in Friedenszeiten angehalten, die Bevölkerung bei Räumungen in den Mittelpunkt zu stellen und bei Räumungen ihr normales Leben möglichst minimal einzuschränken, natürlich unter Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen», sagt der Experte. «Dafür sind Kampfmittelräumer speziell ausgebildet.» Zuletzt war Bär stellvertretender Kommandant des Kommandos Kamir, der hochspezialisierten Fachstelle der Armee für den Bereich Kampfmittelbeseitigung sowie Minenräumung. Dieses hat im Frühjahr 2024 einen technischen Untersuchungsbericht erstellt, den das VBS unter Verschluss halten wollte. Der Bericht liegt der Weltwoche vor.
Die NZZ berichtete zuerst darûber. «Kein Explosionsrisiko» «Ich bin kein Whistleblower», hält Bär im Gespräch fest. 1990 angefangen beim VBS (damals bei der Gruppe Rüstung, heute Armasuisse) als Munitionserprober, habe er ab 1998 sein Berufsleben der Räumung von Kampfmitteln in der Schweiz und im Ausland in kriegsversehrten Ländern gewidmet. Das VBS hätte unter Amherd viel Geld sparen können, wenn man auf Bär und seine Leute gehört hätte. Das Kommando Kamir führte zwischen 2022 und 2024 mehrere Sondiergrabungen durch, um herauszufinden, wie es im Inneren des Bergs tatsächlich aussieht.
Man wollte vor allem in Erfahrung bringen, wie die Munition im damals eingestürzten Eisenbahnstollen oder im Schuttkegel verteilt ist, in welchem Zustand sie sich befindet, wie gefährlich sie noch ist. Auf dieser Basis sollte später eine profunde Risikoanalyse durchgeführt werden, um dann die Resträumung planen zu können. Eine Arbeit also, die – so stellt man es sich vor – eigentlich zu Beginn eines Projekts durchgeführt werden sollte. Nebst dem Timing – bereits während der Grabungen drückte Amherd den 2,5-Milliarden-Kredit durchs Parlament – erstaunt vor allem das Ergebnis des Berichts. Nach den technischen Untersuchungen kommt das Kommando Kamir zum Schluss, dass die Nettoexplosivstoffmasse sehr viel geringer sei «als in den Grundlagen der Risikobeurteilung angenommen».
Es sei davon auszugehen, dass die nicht vollständig verbrannten Explosivstoffe der Munitionsüberreste allenfalls ein Umweltproblem, «aber kein Explosionsrisiko» mehr darstellen. Ein Massenereignis, sogenannte «Detonationsübertragungen zwischen benachbarten Munitionskörpern», beurteilen die Fachkräfte der Armee als «äusserst unwahrscheinlich». Und selbst wenn es in der Anlage bisher unentdeckte Stellen mit einer hohen Dichte von Munition geben sollte, sei nicht von einem aufklingenden Massenereignis auszugehen, weil die Munitionskörper nicht mehr oder nur teilweise mit Explosivstoff gefüllt seien. Die grösste anzunehmende Nettoexplosivmasse schätzen die Experten folglich auf maximal fünf Kilogramm. «Dies entspricht der Umsetzung einer einzelnen, mit der Hauptladung gefüllten und bezünderten 15-cm-Granate», heisst es im Bericht.
Bär sagt, dass 1947 die über 220 Tonnen gelagerten und unter Verdämmung abgebrannten Treibladungspulver hauptverantwortlich für die Zerstörung von Mitholz waren. Falsch gelagerte Treibladungspulver in Munitionslagern seien bei den meisten Munitionsunglücken weltweit die Hauptursache für die Zerstörung von Infrastruktur, bei Anzündung gegeben durch ihre grossen entstehenden Gasvolumen und Treibkräfte. «Diese Treibladungspulver sind heute in Mitholz nicht mehr existent», hält Bär fest. Dass bei der heutigen Risikoanalyse mehr Leben gefährdet sein sollen, als 1947 Personen ums Leben kamen, damals bei einem völlig intakten Munitionslager, sei schlichtweg nicht haltbar. «Wir haben heute eine völlig andere Ausgangslage.» Die Mitholzer, die das Dorf bereits verlassen haben, dürften ihren Augen nicht trauen, wenn sie den Bericht lesen. Bär sagt dazu: «Das VBS hat viel zu früh eine Evakuation des Dorfes angekündigt.» Er selbst sieht sich in früheren Annahmen bestätigt. Er habe schon 2020 in Frage gestellt, ob die angeblichen Risiken tatsächlich unter die sogenannte Störfallverordnung fallen. Er fand aber kein Gehör, im Gegenteil.
Gemäss Bär habe das VBS kritische Einwände des Kommandos Kamir in einem entsprechenden Bericht streichen lassen. Die «korrigierte» Version habe er deswegen erst gar nicht mehr unterschrieben. Womöglich hätte das VBS unter Amherd viel Geld sparen können, wenn man auf Bär und seine Leute gehört hätte. Stattdessen haben die politisch Verantwortlichen die Expertise der eigenen Armee übersteuert. Durch die Störfallverordnung wurde der Staat als Verursacher gezwungen, rasch zu handeln.
Zu rasch. Ständeräte werden stutzig Augen zu und durch, das Heimweh weggewiesener Anwohner wird mit stattlichen Entschädigungszahlungen gemildert, der Steuerzahler übernimmt die Rechnung. Im Bericht empfiehlt das Kommando Kamir der VBS-Führung derweil, eine Räumung zu prüfen, ohne gleich die ganze Fluh abzutragen, etwa durch die Schaffung eines neuen Tunnels oder durch eine Bergsicherung. «Es ist davon auszugehen, dass dadurch grosse Kosteneinsparungen realisiert werden könnten», heisst es im Bericht. Dieser dürfte in Bundesbern auf grosses Interesse stossen und noch zu reden geben.
Die Frage sei nicht, ob, sondern wie man intervenieren werde, sagt Michael Götte. Der SVP-Nationalrat sitzt in der Sicherheits- sowie in der Finanzkommission. Er werde die Thematik wohl in die Finanzdelegation (Findel), wo er ebenfalls Mitglied ist, einbringen, sagt Götte. Die Finanzaufsicht des Parlaments hatte in jüngster Vergangenheit bereits mit dem VBS zu tun. Gemeinsam teilt man die Sorge über sieben wichtige Beschaffungsprojekte im Umfang von fast 20 Milliarden Franken.
Dass Mitholz «nur» ein Zehntel dieses Betrags ausmachen würde, wirkt nicht gerade beruhigend. Auch die Ständeräte sind nach dem Artikel in der NZZ stutzig geworden. «Wir werden in der Subkommission VBS der ständerätlichen Finanzkommission sicher in dieser Angelegenheit nachfragen», stellt der St. Galler Mitte-Ständerat Benedikt Würth in Aussicht. Die fachspezifischen Untergruppen wollen es meist genau wissen.
Zeitlich ist davon auszugehen, dass bereits Amherds Nachfolger hierzu Red und Antwort stehen müssen wird. Gegenüber der NZZ hielt das VBS fest, dass aufgrund der Sondiergrabungen «keine allgemeingültigen Rückschlüsse» gezogen werden könnten. Es ist die gleiche Verteidigungslinie, auf die sich Amherd bereits während der Debatte im Parlament zurückzog. Es sei klar, «dass vollständige Erkenntnisse erst nach dem Abtragen der Gesteins- und Schuttmassen nach 2032 gewonnen werden können», sagte sie im Nationalrat. Allein die SVP hatte Bär und den Munitionsexperten der Armee Gehör geschenkt und damals verlangt, die Debatte über den Verpflichtungskredit vorläufig zu sistieren, bis der Abschlussbericht des Kommandos Kamir vorliegt.
Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass es besser gewesen wäre, auf die Sicherheitspolitiker der Volkspartei zu hören, auf Bär sowieso. Die Lehre für Amherds Nachfolger: Wenn aus der Armee Vorschläge kommen, wie es die Politik besser, effizienter, billiger machen kann, sollte man hellhörig werden auf der Grossbaustelle.