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Die St.Galler Ständeratsersatzwahl schlägt auf den Nationalrat durch

Kommt die Stunde von Bullakaj, Weigelt, Götte oder Ziltener?

 

Ständerat Paul Rechsteiner geht, vier Nationalrätinnen buhlen um seinen Sitz. Macht eine von ihnen das Rennen, muss im Nationalrat eine Ersatzspielerin oder ein Ersatzspieler eingewechselt werden. Das sind die wahrscheinlichsten Wechsel.

 

Es geht um vier Frauen. Und ihre Ambitionen. Um Barbara Gysi, Esther Friedli, Susanne Vincenz-Stauffacher, Franziska Ryser. Sie stehen in den Startpflöcken. Sie kämpfen um den frei werdenden St.Galler Ständeratssitz. Sie werden in den nächsten Wochen gescannt werden – jedes Votum, jeder Auftritt, jedes Lächeln, jedes Stirnrunzeln.

 

Dann gibt es da noch eine Gruppe von Politikerinnen und Politikern. Ihre Worte werden nicht auf die Waagschale gelegt, ihre Auftritte nicht minutiös verfolgt, ihre Kleidung ist kein Thema – noch nicht. Das könnte sich bald ändern. Setzt sich eine der vier Kandidatinnen durch, schlägt das auf den Nationalrat durch. Dann kommt es dort zu einem Wechsel, denn alle vier sind Nationalrätinnen. Das sind die Personen in der Poleposition.

 

SP: Der Fall ist klar

«Der Generationenwechsel ist vertagt»: So schrieb diese Zeitung im Sommer. Dies, nachdem die beiden SP-Nationalrätinnen Claudia Friedl und Barbara Gysi bekanntgegeben hatten, bei den Wahlen im nächsten Herbst erneut zu kandidieren. Die Halbwertszeit politischer Einschätzungen ist manchmal kurz – erst recht dann, wenn SP-Doyen Paul Rechsteiner dazwischenfunkt und seinen Rückzug aus Bundesbern auf Ende Jahr ankündigt. So kommt es, dass Barbara Gysi in den Ring steigt, um für ihre Partei den Ständeratssitz zu verteidigen. Setzt sie sich gegen die Konkurrenz durch, wird ihr Sitz im Nationalrat frei – und der Generationenwechsel findet doch statt.

 

Arber Bullakaj, IT-Unternehmer und ehemaliger Wiler Stadtparlamentarier. Bild: Ralph Ribi

In Lauerstellung ist nämlich Arber Bullakaj. Der IT-Unternehmer und frühere Wiler Stadtparlamentarier gilt als Polittalent. Seit Jahren arbeitet er auf das Ziel hin, auf nationaler Ebene Politik zu machen. Schon zweimal kandidierte der 36-Jährige mit kosovarischen Wurzeln für den Nationalrat, zweimal scheiterte er. Doch bei den letzten Wahlen 2019 erreichte er den ersten Ersatzplatz. Ob er nachrücken würde?

 

Bullakajs Antwort kommt sofort: «Natürlich, ich würde nicht zögern. Ein Sitz im Nationalrat ist zu wichtig, als dass man ihn ausschlagen sollte.» Insbesondere für jemanden wie ihn, der die typische Migrationsgeschichte der Schweiz verkörpere. «Es wäre eine Genugtuung für die Saisonniers der 70er-, 80er- und 90er-Jahre, die nun sehen, dass ihre Kinder dank ihres Einsatzes und ihrer Geduld auch ins oberste Legislativgremium der Schweiz Einzug nehmen können. Es wäre generell eine Genugtuung nach der jahrzehntelangen Ausgrenzungspolitik der SVP gegenüber der Migrationsbevölkerung.»

 

Die Möglichkeit, mitzugestalten, motiviere ihn, sagt der zweifache Familienvater. «Im Parlament wird heute entschieden, was morgen die Bevölkerung betrifft. Deshalb ist es wichtig, dass diese Entscheidungen wohlüberlegt sind und nicht einigen wenigen dienen.» Im aktuellen Parlament fehle ihm die Vielfalt der Perspektiven. Mit seinen Erfahrungen und seiner Geschichte würde er Themen anders beleuchten, neue Ideen einbringen – das Parlament würde mit ihm nicht nur jünger, sondern auch «innovativer und diverser».

 

SVP: Kommt der Dritte zu Zuge?

Thomas Müller, ehemaliger Rorschacher Stadtpräsident und ehemaliger Nationalrat. Bild: Benjamin Manser

Nicht ganz so einfach ist die Ausgangslage bei der SVP. Sollte die neue St.Galler Ständerätin Esther Friedli heissen, ist ihre Nachfolge im Nationalrat ziemlich tricky. Die Toggenburgerin ist nicht ganz unschuldig daran. Erster Ersatz ist der ehemalige Rorschacher Stadtpräsident Thomas Müller, ausgebootet von einer Parteikollegin, die erstmals antrat – Esther Friedli. Sie zog 2019 an ihm vorbei und Müller musste seinen Berner Koffer packen.

 

Die Niederlage – Müller hatte 13 Jahre dem Nationalrat angehört – nahm er sportlich. Nun habe er nach vielen gewonnenen Wahlen «halt eine verloren, es ist wie im Fussball», meinte der ehemalige FCSG-Präsident am Wahlabend. Seine Nichtwiederwahl sei eine «innerparteiliche Sache» und eine Altersfrage. «Es ist Zeit für die nächste Generation.» Müller ist heute 70. Er wird kaum an eine Rückkehr nach Bern denken.

 

 

Barbara Keller-Inhelder, ehemalige Nationalrätin. Bild: Lukas Lehmann/Keystone

Da die SVP in den letzten Wahlen einen ihrer Nationalratssitze verlor, kommt es, dass auch auf dem zweiten Ersatzplatz ein ehemaliges Parlamentsmitglied sitzt, nämlich Barbara Keller-Inhelder. Kann sie sich eine Rückkehr in den Nationalratssaal vorstellen? «Wenn ich nachrücken würde, dann vor allem aus einem Grund: Ich würde versuchen, den Ratsbetrieb zu optimieren», erklärt sie auf Anfrage.

 

Keller-Inhelder hatte sich bereits während ihrer aktiven Zeit in Bern kritisch geäussert, von «Pseudodebatten für die Galerie» gesprochen, von «grossmauligen und polemischen Reden» und davon, dass es vorwiegend um «medial wirksame Inszenierungen, um Schaukämpfe, um Lärm» gehe. «Die Voten, die während der Session gehalten werden, dienen weder der Meinungsbildung noch ändern sie etwas an den Entscheiden.» Diese fielen in den Kommissionen und Fraktionen. Trotz dieser harschen Kritik lässt sie es offen, ob sie nachrücken würde oder nicht.

 

Michael Götte, Tübacher Gemeindepräsident und St.Galler Kantonsrat. Bild: Ralph Ribi

Als Dritter in der SVP-Warteschlaufe steht Michael Götte, Tübacher Gemeindepräsident und Kantonsrat. Er dürfte etwas zappelig sein. Auf Anfrage sagt er: «Ich habe mir aktuell noch keine Gedanken dazu gemacht. Zuerst muss Esther Friedli gewählt werden.» Für ihn stünden zurzeit die Gemeinde und der breite politische Aufgabenbereich bei der Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell (IHK) im Fokus.

 

FDP: Die Nummer eins schweigt – noch

Bei der SP wird also ein junger Mann nachrücken. Bei der SVP deutet einiges darauf hin, dass es auch ein Mann sein wird. Anders sieht es bei der FDP aus. Gelingt Susanne Vincenz-Stauffacher der Coup und sie begleitet künftig Beni Würth nach Bern, so steht in der Poleposition für den freien Nationalratssitz eine Frau, nämlich Karin Weigelt.

 

Karin Weigelt, Unternehmerin und ehemalige Handballnationalspielerin. Bild: Ralph Ribi

Die Unternehmerin und ehemalige Handballnationalspielerin tauchte 2019 erstmals auf der Politbühne auf. Die FDP hätte mit ihrer neuen sportlichen Überraschungskandidatur gerne an 2015 angeknüpft: Damals hatte Marcel Dobler, Unternehmer und Ex-Bobfahrer, nach einem intensiven, auch finanziell aufwendigen Wahlkampf den Quereinstieg in die Bundespolitik geschafft.

 

Weigelt belegte den hintersten Platz in der Startaufstellung, sie war die Nummer zwölf auf der Hauptliste der FDP. Doch am Ende des Tages lag die heute 38-Jährige weit vorne: auf dem ersten Ersatzplatz. Kommt jetzt ihre Stunde?

 

 

Sie verfolge die Ersatzwahl mit grossem Interesse. Doch da aufgrund der angekündigten Kandidaturen mit einem zweiten Wahlgang zu rechnen sei, sehe sie aktuell «noch keinen Grund, mich öffentlich zum Wahlkampf und den möglichen Folgen für mich persönlich zu äussern», erklärt Weigelt. Seit ihrem Wahlkampf 2019 habe sich einiges verändert: Sie sei heute Mutter eines zweijährigen Sohnes, habe ihr Unternehmen ausgebaut – all dies erfordere neue Überlegungen, «für die ich mir die notwendige Zeit zusammen mit meinem Partner nehme». Eine Absage tönt anders. Weigelt lässt die Türe weit offen stehen.

 

Grüne: Knifflige Ausgangslage

Yvonne Gilli, FMH-Präsidentin und ehemalige Nationalrätin. Bild: Michel Canonica

Bei den Grünen ist Ausgangslage ähnlich knifflig wie bei der SVP. Sollte Franziska Ryser der Sprung in den Ständerat gelingen, würde Yvonne Gilli nachrücken. Theoretisch. Die Wilerin kennt den Berner Parlamentsbetrieb von innen: Acht Jahre, bis zu ihrer Abwahl 2005, hatte sie die St.Galler Grünen im Nationalrat vertreten. Heute präsidiert sie die Ärztevereinigung FMH. Sie trat das Amt Anfang Februar 2021 an, scheint daran Freude zu haben und scheut sich auch nicht, den Bundesrat harsch zu kritisieren. Kaum vorstellbar, dass die 65-Jährige in den Nationalratssaal zurückkehren möchte.

 

Patrick Ziltener, Soziologieprofessor und ehemaliger Ständeratskandidat. Bild: Regina Kühne

Als Nächster käme Patrick Ziltener zum Zuge. Der St.Galler lehrt an der Universität Zürich Soziologie und Wirtschaftsgeschichte, sitzt seit 2020 im Universitätsrat der HSG, ist gefragter Ostasienkenner – und ehemaliger Ständeratskandidat. Das war 2019. Er sei kein Quereinsteiger, sondern ein Rückkehrer, betonte Ziltener damals. Er sei in den 80er-Jahren, während der Gründungsphase der Grünen, politisch sehr aktiv gewesen. Als Auslöser für sein Revival nannte er das «klimapolitische Debakel im Nationalrat». Die Klimapolitik ist heute nicht weniger aktuell, die Probleme der Umsetzung sind nicht weniger geworden. Ziltener müsste eigentlich die Chance packen, so sie denn kommt, und nach Bern gehen.

 

Noch ist das Rennen um den frei werdenden St.Galler Ständeratssitz offen. Der eigentliche Wahlkampf beginnt erst nächstes Jahr. Die Ersatzmannschaft kann sie sich vorerst noch zurücklehnen, bis es dann heisst: Bern – ja oder nein?

 

Originalartikel im Tagblatt, 08.12.2022
Bilder: Ralph Ribi, PD, Regina Kühne, Benjamin Manser

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