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«Das ist ein Signal für den Herbst»

Esther Friedli erobert den zweiten St.Galler Ständeratssitz – die SP lässt offen, ob es zur Revanche kommt

 

Esther Friedli ist die neue St.Galler Ständerätin – ein historischer Triumph für die SVP. Wie ihr dies gelang, wie Kandidatinnen und Parteispitzen auf den Richtungswechsel reagieren und was dies für die nationalen Wahlen im Herbst bedeutet.

 

«Esther, Esther, Esther!» Die Anfeuerungsrufe brechen auch dann nicht ab, als längst klar ist: Die neue St.Galler Ständerätin heisst Esther Friedli. Der Lärm an diesem Nachmittag im Pfalzkeller ist ohrenbetäubend. Und purer Kontrast zum Wahlkampf, der zuletzt ruhig vor sich hin plätscherte. Und auch zu Esther Friedli. Sie sei eher der zurückhaltende Typ, sagt sie über sich selber. Und so bricht sie dann auch nicht in Jubelschreie aus, als das Resultat verkündet wird. Gut 57 Prozent der Stimmen hat sie eingeheimst. Konkurrentin Barbara Gysi (SP) macht rund 37 Prozent der Stimmen.

 

Esther Friedli steht mitten im Getümmel von Parteimitgliedern, Familie und Anhängerinnen. Sie drückt Hände, wird umarmt, verschwindet hinter Blumensträussen, erfüllt unzählige Selfiewünsche und beantwortet ruhig Fragen der Medien. «Ich kann es noch gar nicht fassen», sagt sie, als die Gratulations- und Fragewelle etwas abgeklungen ist. Auf die Frage, wie sie sich den überaus klaren Start-Ziel-Sieg erkläre, meint sie: «Ich war täglich draussen bei den Bürgerinnen und Bürgern.» Diese wüssten, welche Politik sie vertrete.

 

Und das, obwohl sie im Wahlkampf manch unverfängliche Antwort gab und damit selbstredend kaum polarisierte. Sie scheint der Gegenentwurf zu den vielen lauten, männlichen Aushängeschildern ihrer Partei zu sein: sachlich, ruhig, ohne jeden Anflug von Polemik. Sie äusserte sich im Wahlkampf wenig prägnant, war aber immer präsent. Über Wochen war sie durch den Kanton getingelt «Esther bi de Lüt» und Tausende von Zuckersäckli mit ihrem Konterfei sind in den letzten Wochen in St.Galler Beizen zum Kaffee serviert worden.

 

Selbst am Vorabend des Wahlsonntags war sie bis in die frühen Morgenstunden auf den Beinen. Es war Abendunterhaltung der Musikgesellschaft im «Haus zur Freiheit». Kaum verwunderlich, wirkt sie am Sonntagnachmittag im Pfalzkeller etwas erschöpft.

 

«Ein Resultat mit Signalwirkung»
70’449 St.Galler Wählerinnen und Wähler wollen, dass künftig Esther Friedli den Kanton im Ständerat vertritt. 45’293 hätten lieber Barbara Gysi als Nachfolgerin von Paul Rechsteiner gesehen. «Das ist ein Spitzenergebnis», sagt Walter Gartmann, Präsident der St.Galler SVP. Und es ist historisch: Erstmals zieht seine Partei in den Ständerat ein. Seit 20 Jahren versucht sie es, bislang vergeblich. Nach den Gründen gefragt, weshalb es diesmal so rund lief, antwortet Gartmann: «Esther packt an, sie ist bürgernah, und sie hat in Bundesbern Spuren hinterlassen.»

 

Bisweilen ging im Wahlkampf fast vergessen, dass Esther Friedli stramm auf Parteilinie politisiert. Gartmann sagt: «Sie vertritt klar die Haltungen und Positionen der SVP.» Dennoch: Sie hat weit über die Parteigrenze hinaus Stimmen geholt. Friedlis Art verfängt beim Volk – Partei hin oder her. «Das Resultat hat Signalwirkung für den Herbst», sagt Esther Friedli. Der zweite St.Galler Ständeratssitz wandere nun von «ganz links nach rechts». Ihr Lebenspartner Toni Brunner, ehemaliger Parteipräsident der SVP Schweiz und Nationalrat, kommentiert das Ergebnis so: «Völker hört die Signale.»

 

Götte, der lachende Dritte
Einer, der schon bald mit Esther Friedli zusammen den Zug Richtung Bern besteigen wird, ist Michael Götte. Der Tübacher Gemeindepräsident und Kantonsrat rückt für die Politologin und Gastronomin in den Nationalrat nach. Er hat einst angekündigt, künftig eher weniger als mehr politisieren zu wollen – «doch das ist eine unverhoffte Wendung», freut er sich im Pfalzkeller. Für die grosse Auslegeordnung all seiner bisherigen Aufgaben sei es noch zu früh. «In sechs Monaten geht es bereits darum, die Wiederwahl zu schaffen.»

 

Götte darf nach Bundesbern, obwohl er 2019 nur auf dem dritten Ersatzplatz gelandet ist. Der erste Nachrückende, der ehemalige St.Galler SVP-Nationalrat Thomas Müller, unterschrieb seine Verzichtserklärung noch am Sonntag im Pfalzkeller. Und auch die zweite Nachrückende. Barbara Keller-Inhelder hatte vor wenigen Tagen angekündigt, Götte den Vortritt zu lassen.

 

Fahren bald gemeinsam nach Bern: Die neu gewählte Ständerätin Esther Friedli und der in den Nationalrat nachrückende Michael Götte vor dem Pfalzkeller. Bild: Keystone/Gian Ehrenzeller

Enttäuschte Gysi kritisiert Medien
«Für mich und für das sozial-ökologische St.Gallen ist das Resultat eine grosse Enttäuschung», sagt Barbara Gysi in einer ersten Reaktion. Sie habe zusammen mit ihrem Team und vielen Unterstützerinnen und Unterstützern dafür gekämpft, dass die SP den Sitz im Stöckli halten könne.

 

Sie und die Partei müssten nun genau analysieren, warum es nicht gelungen sei, deutlicher zuzulegen. Eine Rolle habe sicherlich gespielt, dass man von Anfang an immer wieder gehört habe, es handle sich um eine «Mission impossible» – eine unmögliche Mission. Das sei auch von den Medien immer wieder transportiert worden. Für viele Wählerkreise habe diese Aussage demobilisierend gewirkt.

 

Hinzu sei gekommen, dass die bürgerliche Gegenseite einen sehr geschlossenen Block gebildet habe. «Man wollte nicht, dass sich Leute für mich aussprechen», betont Gysi. So habe es beispielsweise eine Parole der Christlichsozialen für die SP-Kandidatin gegeben. Dies sei nie an die Öffentlichkeit gelangt, weil die Mitte Stimmfreigabe beschlossen hatte.

 

«Arbeitnehmende verlieren ihre Stimme»
Auch SP-Präsidentin Andrea Scheck zeigt sich enttäuscht: «Wir können mit diesem Resultat nicht zufrieden sein.» Gleichzeitig sei es keine grosse Überraschung. St.Gallen sei ein konservativer Kanton, und die bürgerlichen Parteien hätten Esther Friedli stark unterstützt. «Wir konnten das links-grüne Lager mobilisieren, aber nicht viel darüber hinaus», sagt Scheck. Das zeige, wie wichtig die Wahlempfehlung der FDP für Esther Friedli gewesen sei.

 

Die Stimmfreigabe der Mitte bezeichnet Scheck als «sehr bedauerlich». Sie habe immer wieder von einem starken innerparteilichem Druck gehört, Barbara Gysi nicht offen zu unterstützen. «Damit hat sich die Mitte als Steigbügelhalterin der SVP positioniert», kritisiert die SP-Präsidentin. Nun komme es zu einem Rechtsrutsch im Ständerat. Arbeitnehmende und Menschen mit kleinem Portemonnaie würden ihre Stimme verlieren. «Das bereitet mir Sorgen», sagt Scheck.

 

Greift die SP im Herbst an?
Unter die Gratulanten von Esther Friedli hat sich auch der St.Galler Mitte-Ständerat Beni Würth gemischt. Er werde sie in die Gepflogenheiten des Ständerats einführen, sie hätten sich bereits zum Mittagessen verabredet, erzählt die neue Ständerätin. Zwei Sessionen – dann stehen im Herbst bereits die nationalen Wahlen an. Die Chance, dass das Duo Würth-Friedli dann bereits wieder Vergangenheit ist, sind nicht allzu gross.

 

SVP-Präsident Gartmann äussert sich vorsichtig: Er gehe davon aus, dass im Herbst alle Parteien wieder in den Ständeratswahlkampf einsteigen werden – «das ist eine gute Plattform für die gesamten nationalen Wahlen».

 

Wird die SP bei den Ständeratswahlen im Herbst erneut angreifen? «Für mich persönlich ist klar, dass wir wieder antreten», sagt Gysi. Ihre Partei werde aber zunächst das aktuelle Ergebnis genau analysieren. «Dann werden wir sehen, ob ich die richtige Person dafür bin oder jemand anderes», sagt Gysi.

 

Das neue St.Galler Ständeratsduo: Esther Friedli und Beni Würth unter Beobachtung von Toni Brunner (von rechts) Bild: Keystone/Gian Ehrenzeller

 

Die Medien hätten ihr während des Wahlkampfs immer wieder abgesprochen, mehrheitsfähig zu sein. «Das war nicht sehr erfreulich.» Zumal sie in der Vergangenheit etwas anderes bewiesen habe. Deutlich zurückhaltender äussert sich SP-Parteipräsidentin Andrea Scheck zur Frage, ob die Sozialdemokraten im Herbst nochmals für den Ständerat kandidieren: «Das müssen wir zuerst in der Partei besprechen.»

 

Originalartikel: Tagblatt, 30.04.2023 (Regula Weik und Michael Genova)

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