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Befreiungsschlag für Michael Götte

Der St.Galler SVP-Politiker startet heute im Nationalrat – und beendet eine Zeit des Zweifels

 

Michael Götte gehört zu den einflussreichsten Köpfen der St.Galler Kantonspolitik. Doch nicht immer gingen seine Pläne auf. Jetzt rückt er für Esther Friedli in den Nationalrat nach: ein Durchbruch für den SVP-Politiker.

 

Es ist ein grosser Tag für die St.Galler SVP: Ab heute hat sie einen Sitz mehr im Bundesparlament. Esther Friedli zügelt vom Nationalrat hinüber in den Ständerat. Nachrücken in der grossen Kammer darf Michael Götte.

 

Nachrücken, das klingt recht simpel und angenehm. Als würde man ganz unverhofft und automatisch in den Nationalrat befördert, weil man zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.

 

Der Eindruck täuscht, besonders bei Michael Götte. Für ihn ist das keine Kleinigkeit, noch weniger ein Zufall – sondern ein Durchbruch nach einer bereits 23-jährigen Politkarriere. «Ein spezielles Gefühl» habe er im Hinblick auf den ersten Tag im Bundeshaus, so Götte beim Gespräch an einem seiner Arbeitsplätze, bei der Industrie- und Handelskammer in St.Gallen. Er sei «total glücklich», auch wenn er wisse, dass intensive Zeiten auf ihn zukämen, sagt der dreifache Vater. «Nationalrat, das ist fast das Höchste, was man in der Politik machen kann.» Für Götte ist es auch ein Neustart nach einer Phase des Zweifels und der Ungewissheit.

 

Inspiriert von Ogi, unterstützt von Oehler
Der 43-Jährige kennt den Politbetrieb von ganz unten. Im Jahr 2000 gründet er die SVP-Ortspartei Steinach, politisiert durch viele Gespräche im Restaurant seiner Eltern und beeindruckt durch einen Auftritt von Bundesrat Adolf Ogi an einem Besuchstag der Armee. 2003 rückt Götte in den Kantonsrat nach, wird 2006 Gemeindepräsident von Tübach, 2009 SVP-Fraktionschef im Kantonsrat. Beruflich arbeitet er schon früh parallel bei der öffentlichen Hand und in der Privatwirtschaft, treibt zudem eine Offizierskarriere voran. Sein damaliger Arbeitgeber Edgar Oehler, der Rheintaler Unternehmer und frühere CVP-Nationalrat, unterstützt Göttes politische Ambitionen. Wobei der Job nicht unbedingt darunter leiden durfte. «Edgar Oehler sagte mir, ich könne ja im Büro morgens etwas früher anfangen», erinnert sich Götte schmunzelnd. «Ich habe viel von ihm gelernt, wirtschaftlich wie politisch.».

 

2012 kandidiert Götte für die St.Galler Regierung, «damals mit relativ wenig Erfahrung». Dennoch: Er meint es ernst, betreibt einen aufwendigen Wahlkampf, mit einer Jogging-Tour quer durch den Kanton, mitten im Winter. Am Schluss reicht es nicht ganz, Fredy Fässler (SP) holt den freien Sitz.

 

Götte wird in den folgenden Jahren als Fraktionschef im Kantonsrat eine prägende Figur. Und will dann doch weiter nach oben. 2018 entscheidet er, erstmals für den Nationalrat zu kandidieren. Der Tübacher kommt in den Wahlen 2019 zwar auf die vorderen Plätze, der Sprung nach Bern gelingt aber nicht, zumal die St.Galler SVP im Nationalrat einen Sitz verliert.

 

Die grosse Enttäuschung im Frühjahr 2020
Innert kürzester Zeit – und «etwas unverhofft» – sei danach wieder die Regierungswahl zum Thema geworden, sagt Götte. Er tritt 2020 ein zweites Mal an, erreicht im ersten Wahlgang die meisten Stimmen aller Nichtgewählten, mehr als Beat Tinner (FDP) und Laura Bucher (SP).

 

«Ich ging gut motiviert in den zweiten Wahlgang», erinnert sich Götte. Der Corona-Lockdown habe den Wahlkampf stark erschwert. Trotzdem: Vor dem Wahlsonntag ist der SVP-Kandidat guten Mutes, und auch etwas wehmütig, weil er mit einem Abschied vom Tübacher Gemeindehaus rechnet. Dann die herbe Enttäuschung: Er scheitert erneut, Bucher und Tinner überholen ihn knapp.

 

«Das war wirklich ein Rückschlag», sagt Götte. «Ich hatte danach ein Tief, zwei Monate lang.» Er habe sich intensiv Gedanken darüber gemacht, wie es politisch und beruflich weitergehen solle. Im Herbst 2020 gibt Götte das Fraktionspräsidium im Kantonsrat ab. Als die eidgenössischen Wahlen 2023 am Horizont auftauchen, denkt er an eine erneute Kandidatur. Und dann «ging die Übung mit dem Ständerat los».

 

Als Esther Friedli am 30. April als Nachfolgerin von Paul Rechsteiner gewählt ist und feststeht, dass Thomas Müller und Barbara Keller-Inhelder auf das Nachrücken im Nationalrat verzichten, ist Götte an der Reihe. Er muss nicht mehr lange überlegen: Er will nach Bern.

 

Endlich Gewissheit: Michael Götte und Esther Friedli am Wahlsonntag, dem 30. April 2023. (Bild: Donato Caspari)

 

SVPler mit liberalen Positionen
Götte steht innerhalb der SVP auf der liberaleren Seite. Als Fraktionschef im Kantonsrat verschaffte er sich Respekt über die eigene Partei hinaus – als einer, der Kompromisse schmieden kann, hauptsächlich mit den anderen bürgerlichen Fraktionen. Weggefährten aus anderen Parteien vermuten, dass Götte auch ab und zu eine Fraktionsmeinung vertreten musste, die nicht unbedingt seiner persönlichen Meinung entsprach. Er selber sagt jedoch: «Ich musste mich nie verbiegen.» Grundsätzlich teile er die Linie der SVP, «sonst wäre ich nicht seit 23 Jahren aktives Mitglied».

 

Gestört hat sich Götte als wirtschaftsnaher Politiker an der SVP-Begrenzungsinitiative, genauer: an der Klausel für die Kündigung der Personenfreizügigkeit. «Ich will überhaupt keine Annäherung an die EU. Aber gerade die Ostschweiz als Grenzregion ist darauf angewiesen, dass ihre Unternehmen grenzüberschreitend tätig sein können.» Für die Wirtschaft brauche es verbindliche Lösungen. 2019 distanzierte er sich auch vom Plakatsujet der SVP Schweiz, das andere Parteien als Würmer in einem Apfel darstellte. Es entsprach nicht seinem politischen Stil.

 

Die «Weltwoche» schrieb vor kurzem, Götte habe «ein Flair für freisinnige Positionen» und bezeichnete ihn kurzerhand als «Thierry vom Bodensee», anspielend auf den Präsidenten der FDP Schweiz. Götte sagt dazu: «Es gibt viele Positionen, in denen die FDP mit der SVP übereinstimmt. Hoffentlich ja auch! Sonst würde die bürgerliche Politik nicht funktionieren.»

 

Wo sieht er die grössten Baustellen in der Bundespolitik? Nebst dem Thema Schweiz-EU seien es Sicherheitsfragen, Finanzen, Migration, die fortschreitende Digitalisierung. «In verschiedenen Bereichen haben wir eine Situation, die wir gerade noch knapp bewältigen können. Wir müssen uns wieder etwas mehr Luft verschaffen.»

 

Schafft er die Wiederwahl, folgt das grosse Aufräumen
An die Vereidigung heute in Bern darf Götte 15 Gäste mitnehmen, mit dabei sind seine Frau und seine Kinder – zwölf-, zehn- und achtjährig. Für die Familie bedeute sein neues Amt eine gewisse Umstellung, sagt er. Wobei: «Dass ich oft weg bin, das kennen sie.»

 

In Bern wohnt Götte vorerst im Hotel. Für ihn beginnt eine Übergangsphase, schon im Herbst muss er wieder zur Wahl antreten. «Definitiv neu organisieren werde ich mich erst, wenn ich die Wiederwahl geschafft habe», sagt Götte. Das Tübacher Gemeindepräsidium würde er voraussichtlich weiterführen, aus dem Kantonsrat hingegen zurücktreten – und auch von seinen diversen weiteren Engagements «müsste ich sicher einiges abgeben».

 

Eine Herzensangelegenheit dürfte für ihn der Sport bleiben. Götte ist immer wieder als Organisator an grossen Sportanlässen beteiligt, so auch an der St.Galler Etappe der Tour de Suisse in zwei Wochen. Sein Joggingzeug nimmt er mit nach Bern – «vielleicht reicht es ja mal für eine Runde an der Aare».

 

Originalartikel: Tagblatt, 30.05.2023 (Adrian Vögele)

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