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Polit-Experte Trütsch: «Friedli hat einen Rösti-Bonus»

Am Sonntag, 30. April 2023, entscheidet sich, wer in den Ständerat zieht. Steht die Siegerin schon fest oder kommt es doch noch zur grossen Überraschung? Bundeshaus-Experte Hanspeter Trütsch schätzt die Lage für stgallen24 ein.

Hanspeter Trütsch, Esther Friedli holte beim ersten Wahlgang mit Abstand die meisten Stimmen. Haben Sie mit solch einem Ergebnis gerechnet?

Mit einem solch klaren Ergebnis von Esther Friedli im ersten Wahlgang hat wohl niemand gerechnet. Mit einem Stimmenanteil von 43.9 % hat sie weit über das Wählerpotential der SVP hinaus mobilisiert und holte sich in 73 von 75 Gemeinden den Spitzenplatz. Das ist ein Top-Resultat. Damit startet sie mit einem komfortablen Vorsprung in die zweite Runde. Selbst in Wil, dem Wohnort von Barbara Gysi, machte Friedli mehr Stimmen als ihre Mitbewerberin. Das ist schon aussergewöhnlich und war in dieser Klarheit nicht zu erwarten.

Was hat Friedli bzw. die Partei Ihrer Meinung nach richtig gemacht?

Die Ankündigung von Barbara Gysi unmittelbar nach Bekanntgabe des Resultats zum 2. Wahlgang wieder anzutreten, hat nicht nur im bürgerlichen Lager viele brüskiert. Aus der persönlichen Optik der SP-Kandidatin ist dies zwar nachvollziehbar, aber taktisch unklug. Wenn die SP die SVP-Kandidatin hätte verhindern wollen, hätte man sich auf eine Kandidatur von Susanne Vinzenz-Stauffacher einigen müssen. Weil dies nicht geschah und sich die FDP-Kandidatin zurückgezogen hat, bleibt Friedli in der Pole-Position und dürfte wohl als strahlende Siegerin den Einzug in den Ständerat schaffen.

Wird das Gysi Stimmen kosten?

Mag sein, dass dieses Vorgehen Barbara Gysi Stimmen kosten wird. Aber unterm Strich ändert sich nichts an der Ausgangslage. Das Potential von rot-grün von zusammen 34.7 % im ersten Wahlgang ist ausgeschöpft. Selbst wenn jetzt noch Stimmen aus dem GLP-Lager dazukommen, reicht es nicht, dass es für Esther Friedli gefährlich werden könnte.

Die Mitte beschloss Stimmfreigabe. Abweichende Stimmen aus der FDP oder Bekenntnisse aus der früheren CVP sind kaum auszumachen. Warum erhält Gysi im Gegensatz zu Paul Rechsteiner so wenig Unterstützung von den Bürgerlichen?

Barbara Gysi politisiert als Gewerkschafterin klar links. Ihr Engagement für faire Löhne, Gleichberechtigung und etwa die Pflegeinitiative ist anerkannt. Paul Rechsteiner politisierte ebenfalls dezidiert links, war bei seiner Wahl in den Ständerat bereits 25 Jahre im Nationalrat, im ganzen Kanton bekannt und präsent und schaffte seine damals überraschende Wahl auch wegen der taktischen Fehler der CVP. Die Ausgangslage ist bei dieser Ersatzwahl völlig anders.

 

«Das Potenzial von rot-grün von zusammen 34.7 Prozent im ersten Wahlgang ist ausgeschöpft. »

Hanspeter Trütsch, ehemaliger SRF-Bundeshauskorrespondent

Wie empfinden Sie den Auftritt der beiden Kandidatinnen im zweiten Wahlgang?

Ein zweiter Wahlgang ist immer mühsam. Längst haben die Kandidatinnen alles gesagt, man kennt ihre politischen Standpunkte, ihre Stärken und Schwächen. Insofern ist es ein Wahlgang mit angezogener Handbremse. Etwas lustlos, eine Pflichtübung. Das dürfte sich auch in einer tiefen Wahlbeteiligung zeigen, zumal eben viele WählerInnen und Wähler wohl denken, es ist ja eh alles schon gelaufen. Entsprechend schwierig ist es für die Parteien zu mobilisieren.

Welches Resultat erwarten Sie am 30. April?

Prognosen sind natürlich immer schwierig und Überraschungen nie völlig auszuschliessen. Nur: der komfortable Vorsprung von Esther Friedli aus dem ersten Wahlgang, die Unterstützung durch die FDP und die Bauern, das Gewerbe und die IHK, all das dürfte für die Toggenburgerin zu einer guten Wahl reichen. Anders als frühere SVP-Kandidaten punktet die Bernerin Esther Friedli mit einem «Rösti»-Bonus, hart in der Sache, anständig im Ton, oder wie es der «Tagesanzeiger» im Februar formulierte, St.Gallen habe die Wahl zwischen «gmögig oder lieber trocken»

Wird Esther Friedli in den Ständerat gewählt, wer käme für sie in den Nationalrat nach?

Als Kronfavorit gehandelt wird Michael Götte, Kantonsrat und Gemeindepräsident von Tübach. Er ist nach Thomas Müller, Rorschach und Barbara Keller-Inhelder, Rapperswil, dritter Ersatz. (Beide schafften bei den Wahlen 19 die Wiederwahl nicht) Thomas Müller will nicht wieder nach Bern. Barbara Keller-Inhelder kam nach reiflicher Überlegung zum gleichen Schluss und verzichtet nun ebenfalls. Damit wäre der Weg definitiv frei für Michael Götte. Klar ist: Wer immer auch am Sonntag in den Ständerat gewählt wird oder dann in die grosse Kammer nachrückt – viel Zeit zum Einarbeiten bleibt nicht. Denn alle müssen sich bei den Gesamterneuerungswahlen am 22. Oktober erneut den Wahlen stellen.

 

Hanspeter Trütsch war SRF-Bundeshaus- korrespondent Bild: zVg

Hanspeter Trütsch
Jahrgang 1953, lebt in St.Gallen, wo er auch die Schulen besuchte. Nach dem Betriebswirtschafts-Studium begann Trütsch seine Journalistenlaufbahn 1977 bei Schweizer Radio DRS. Nach einem Stage im Studio Zürich wechselte er zum Regionaljournal Ostschweiz. Von 1982 bis 1990 verlagerte sich das Tätigkeitsfeld von Hanspeter Trütsch ins Ressort «Innenpolitik/Wirtschaft» von Schweizer Radio DRS in Bern, in den Jahren 83 bis 89 berichtete er für das Radio aus dem Bundeshaus .

 

1990 wechselte er zum Schweizer Fernsehen als Ostschweiz-Korrespondent. 1996 wechselte er in die damalige SF-Bundeshausredaktion, die er seit 2005 leitete. 2007 wurde er mit dem Radio- und Fernsehpreis der SRG idée suisse Ostschweiz ausgezeichnet. Ausserdem ist er der 41. Ehren-Födlebürger der Stadt St.Gallen.

 

Am 1. März 2016 gab er die Leitung der TV-Bundeshausredaktion von SRF ab und berichtete bis Ende Januar 2018 weiterhin aus Bern. Seit Februar 2018 ist Hanspeter Trütsch pensioniert. Er arbeitet aber weiterhin als Moderator und Publizist (Diskussionsleitung, Coaching, Moderationen etc.).

 

Originalartikel: Uzwil24.ch, 26.04.2023 / Bild: Miryam Koc, StGallen24

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