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Bürgerversammlungen in den Gemeinden am See droht das Aus: Die Begeisterung für Livestreams hält sich in Grenzen

Horn hat seine Bürgerversammlung von Montagabend abgesagt. Befunden über Rechnung und Budget wird brieflich am eidgenössischen Abstimmungstermin vom 13. Februar. Die restlichen Gemeinden in der Region Rorschach entscheiden erst Mitte Februar, ob eine Bürgerversammlung durchgeführt wird. Den Abstimmungen in den Mehrzweckhallen wird weniger nachgetrauert als dem fehlenden direkten Austausch mit der Bevölkerung.

 

Eine der denkwürdigsten Bürgerversammlungen der vergangenen Jahrzehnte fand am 22. März 2016 in Goldach statt. 958 Stimmberechtigte kamen in die Wartegghalle und sorgten mit 16,6 Prozent für eine rekordverdächtig hohe Stimmbeteiligung. Auslöser für das grosse Interesse war das Generationenprojekt Umfahrung Mühlegutstrasse, das damals mit 458 zu 435 Stimmen knapp gutgeheissen wurde.

 

Hitzige Diskussionen und emotionale Voten sind in Goldach jeweils auch ohne Rekordbeteiligung an der Tagesordnung. Allerdings hat die Covid-19-Pandemie den direkten Austausch an der Gemeindeversammlung in den vergangenen zwei Jahren verhindert. Wenig erstaunlich also, dass die kommunalen Entscheidungsträger in der Region am See die Entscheidung über eine neuerliche Absage einer physischen Bürgerversammlung hinauszögern, in der Hoffnung, dass sich die Coronalage doch noch entschärft.

 

Gemeinden müssen bald entscheiden
«Wir werden anlässlich der Gemeinderatssitzung vom 25. Januar darüber befinden», sagt Goldachs Gemeindepräsident Dominik Gemperli und fügt ergänzend hinzu: «Ich gehe aber davon aus, dass die Geschäfte an die Urne verwiesen werden.»

Unter Berücksichtigung der geltenden BAG-Vorgaben sei es kaum möglich, eine Bürgerversammlung durchzuführen, bei der alle Personen – also ohne Zertifikatsverpflichtung – Zutritt zur Versammlung haben müssten. Die Verhältnisse mit den notwendigen Abstandsvorschriften lassen laut Gemperli kaum einen regulären Betrieb zu. Die pandemische Entwicklung mit entsprechender Massnahmegestaltung lasse sich nicht mehr lange beobachten, ein Entscheid wegen der Planung müsse zeitnah gefällt werden. Eine eventuelle Urnenabstimmung würde in Goldach vermutlich am 10. April stattfinden.

 

Ist anstelle einer Bürgerversammlung ein Livestream denkbar, so wie es Tübach vergangenes Jahr gemacht hat? «Wenn ein Livestream für die Bürgerinnen und Bürger im konkreten Fall einen Nutzen hat, ist es sinnvoll. Dies muss aber im Einzelfall festgelegt werden und hängt sicher auch von der Beurteilung ab, ob die Abstimmungsgegenstände umstritten sind oder ganz grundsätzlich Klärungsbedarf besteht. Wir werden dies im Rat diskutieren», sagt Goldachs Gemeindepräsident.

 

Livestream zum Seeuferweg
Er schätze grundsätzlich das Gefäss der Bürgerversammlung sehr, weil es einen direkten und unmittelbaren Austausch ermögliche, so Gemperli. Ausserdem gehöre es zur Politik auf kommunaler Ebene ein Stück weit dazu. Aber Versammlungen müssten halt auch vernünftig durchführbar sein, sonst ergebe es keinen Sinn.

 

«Ein Livestream passt, um komplexe Zusammenhänge zu erklären und vorzustellen», sagt Rorschacherbergs Gemeindepräsident Beat Hirs. Dies werde der Gemeinderat daher beim Infoanlass zum Seeuferweg vom 23. Februar so machen. Ein Livestream ersetze aber nicht die Bürgerversammlung und habe lediglich den Charakter einer informellen Veranstaltung. Hirs sagt: «Anstelle einer Bürgerversammlung gäbe es aus meiner Sicht eher Verwirrung und ist daher nicht vorgesehen.»

 

Er selber finde die Durchführung einer Bürgerversammlung wichtig, insbesondere auch für den persönlichen Kontakt und Austausch. Für politische Parteien oder weitere Exponenten könne sie eine mögliche Plattform für Auftritte sein, die aber eher überbewertet sei. «Die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Wünsche anzubringen, ist im direkten Kontakt zum Gemeinderat oder der Verwaltung nämlich viel wirksamer und einfacher als an der Bürgerversammlung.» So habe er gut gemeinte Anträge in der Vergangenheit auch mit viel gutem Willen an der Versammlung nicht «retten» können, da sie unglücklich formuliert gewesen seien. Könne dann nicht darüber abgestimmt werden, würden sie wenig bewirken, sondern höchstens enttäuschen.

 

«Wenn ich die Stimmbeteiligung anschaue, dann ist die Urnenabstimmung wesentlich demokratischer wegen der massiv höheren Stimmbeteiligung», zeigt sich Hirs überzeugt. Es gebe somit für beide Varianten Vor- und Nachteile, die der Gemeinderat besonders auch unter Corona-Aspekten abwägen müsse. Geplant ist die Bürgerversammlung am 6. April. Über die Durchführung entscheiden will Rorschacherberg nächste Woche. «Am Präsidententreffen mit Rorschach, Goldach, Mörschwil und Tübach tauschen wir uns aus über die möglichen Absichten. Idealerweise entscheiden die betroffenen Gemeinden dann gleich.»

 

Echter Diskurs findet nur an der physischen Versammlung statt
Auch Rorschachs Stadtpräsident Röbi Raths kann im Moment noch nicht definitiv sagen, ob es am 29. März eine Bürgerversammlung oder am 10. April eine Urnenabstimmung geben wird. Auch er verweist auf das Präsidententreffen. Raths sagt: «Nur eine Urnenabstimmung allein genügt nicht. Die Bürgerschaft muss anderweitig Informationen erhalten und sich äussern können. Ob nun bei einem Livestream oder in anderer Form.»

 

Die Bürgerversammlung habe für ihn einen hohen Stellenwert. Eine definitive Verschiebung der Abstimmung an die Urne wäre laut Raths denkbar. Wenn dem so wäre, müsste aber zumindest vor der Abstimmung eine Vorversammlung stattfinden, bei der Rechnung und Budget erläutert würden. Eine Vorversammlung wäre für ihn auch parallel zur Bürgerversammlung denkbar. «Der persönliche Kontakt und der Austausch mit der Bevölkerung sind mir sehr wichtig. Natürlich, wenn Rechnung und Budget über eine Urnenabstimmung beschlossen würden, wäre der Stimmenanteil bedeutend höher als bei einer Bürgerversammlung mit ca. drei bis fünf Prozent Stimmenbeteiligung.»

 

Tübachs Bürgerversammlung soll am 23. März stattfinden. Der Entscheid über die Durchführung wird laut Gemeindepräsident Michael Götte bis spätestens am 12. Februar gefällt. Ob Tübach wieder einen Livestream auf die Beine stellt, habe der Gemeinderat noch nicht geklärt. «Wir haben festgestellt, dass mit Onlineformaten fast kein Austausch stattfindet.»

 

Kann er sich vorstellen, dass Gemeinden künftig über Rechnung/Budget nur noch an der Urne abstimmen, Bürgerversammlungen also quasi zu reinen Informationsveranstaltungen degradiert werden? «Unvorstellbar ist nichts, es entspricht aber nicht der gewohnten und beliebten Demokratieform der Gemeinden. Eine Gemeinde ohne Bürgerversammlung wäre, wie wenn auf nationaler und kantonaler Ebene die Parlamente nicht mehr tagen würden. Dazu kommt, dass wir in Tübach immer eine sehr hohe Beteiligung an Bürgerversammlungen hatten.»

 

Quelle: Tagblatt, 18.01.2022, Rudolf Hirtl

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